Motorik der Kinder verkümmert

Sitzen vorm Computer, vorm Fernseher und in der Schule – Bewegungsfähigkeit nimmt messbar ab: Die Kinder von heute bewegen sich viel weniger als noch vor 20 Jahren. Auch ihre motorische Leistungsfähigkeit sinkt messbar, mahnen Experten.

Von ELKE RUSS

INNSBRUCK. Nur mehr einer von drei Erstklasslern schafft einen Purzelbaum im ersten Anlauf, jeder zweite Viertklassler leidet an Rückenschmerzen, ergaben Untersuchungen an Münchner Grundschulen. Die deutsche Erziehungswissenschafterin Renate Zimmer spricht sogar von einem zehn- bis fünfzehnprozentigen Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit der Vier- bis Sechsjährigen seit 1987.

Frühe Sitzkarrieren
Im Innsbrucker Therapie und Förderzentrum Eule beobachtet man ähnliches diesseits der Nordkette. Die Kinder sitzen ja nicht nur in der Schule. “Die Freizeitgestaltung hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert: von bewegungs- zu kinder- bzw. wohnzimmerorientierten Dingen”, sagt Martin Warbanoff, fachlicher Leiter der Eule. Bei Fernseher und PC “müssen die Kinder nur wenig bewegen, um etwas zu bewirken”.

Die Karriere in der Sitzgesellschaft beginnt aber noch früher: Der zum sicheren Transport bestimmte Babysitz mit dem praktischen Tragegriff hat die Gehschule verdrängt. “Darin können sich die Kleinen gar nicht mehr viel bewegen.”

“Damit es sich gut differenzieren kann, braucht das Gehirn aber so viele unterschiedliche Reize wie möglich”, betont Warbanoff die Bedeutung körperlicher Aktivität. Die Bewegungsfähigkeit wirke zudem auf Selbstbild und Selbstwert: “Mit Bewegungsförderung kann man Kinder auch emotional stärken.” Nicht zufällig nutzt die Eule Aktivitäten im Freien in der Therapie kindlicher Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Entwicklungsbeeinträchtigungen.

Appell zur Bewegung
Studien zeigen übrigens auch in der Bewegungsförderung ein Sozialgefälle: Kinder aus sozial schwachen Familien sind öfter benachteiligt mit allen Folgerisken, Warbanoff warnt aber in jedem Fall vor Schuldzuweisungen an Eltern. Der Appell richte sich auch an Kindergärtner und Lehrer, “möglichst viele Bewegungselemente einzubauen”,

Kinder bewegen am Computer ganze Armeen an Spielern aber sich selbst immer weniger.

MOTORIK BEI KINDERN
Laut der deutschen Erziehungswissenschafterin Renate Zimmer sank die motorische Leistungsfähigkeit von Kindem seit 1987 um 10 bis 15 Prozent.

Alarmierende Werte: Münchner Schuleingangsuntersuchungen zeigten 2003 bei 20 Prozent der Kinder übergewicht, bei 60 Prozent Haltungsschäden. Nur 30 Prozent der Taferlklassler schafften einen Purzelbaum im ersten Anlauf. Jeder zweite Viertklassler klagte über Rückenschmerzen, 40 Prozent hatten Koordinationsschwächen.

Sozialgefälle: Bei Kindern aus der untersten sozialen Schicht ist (verglichen mit der obersten Schicht) das Risiko von Fettleibigkeit um den Faktor 3 erhöht, von emotional/sozialen Störungen um den Faktor 5 und bei Lernstörungen um den Faktor 15.

(Tiroler Tageszeitung Nr. 244 – Tirol Aktuell – Donnerstag 20. Okt. 2005 (S. 12))


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